Früher hatte die Geschichte vom Professor und der Nachwuchswissenschaftlerin eine erotische Komponente, heute veröffentlicht man lieber gemeinsam Artikel in der ZEIT. Geert Keil und Juliane Jüngling haben es vorgemacht, und Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger ziehen am 27.04.2023 nach. Die Kunst besteht darin, scheinbar abgeklärt, mit Übersicht, streng wissenschaftlich und leicht spöttisch über den Dingen zu stehen, aber doch klarzumachen, dass man zu den Guten gehört.
Die Guten, das sind hier die Linksliberalen, „das neue Feindbild im politischen Diskurs“. Interessanterweise wird im gesamten Text kein einziges aktives, positives Merkmal des Linksliberalismus genannt; er wird dargestellt als gewissermaßen passive Akzeptanz dessen, was ohnehin passiert:
Der Linksliberalismus ist in Teilen der Gesellschaft, symbolisiert durch den politischen Aufstieg der Partei Die Grünen, tatsächlich einflussreich. Es gibt einen beschleunigten Wandel sozialer Normen im alltäglichen Konsum, in den Geschlechterbeziehungen und im Klimabewusstsein, der auch in modernen konservativen Milieus auf Zustimmung trifft. Selbst die CDU hat sich für die „Ehe für alle“ ausgesprochen. Früher hätte man das Fortschritt genannt.
Passivität ist gut, denn wer passiv ist, dem nimmt man den Opferstatus ab, und dieser ist heute von großem Wert. Wenn man diese Taktik verschleiern will, wirft man sie am besten dem Gegner vor:
Die Neodissidenten präsentieren sich selbst als Ausgestoßene: Für Wahrheit und Aufklärung sind sie bereit, Opfer zu bringen. […] Denn hier sprechen sie zu Fans, hier sind sie heroische Opfer.
Namentlich im Text vor kommen übrigens Friedrich Merz, Markus Söder, Sahra Wagenknecht, Ulf Poschardt, Dieter Nuhr, Juli Zeh, Helmut Schelsky und Sandra Kostner.
Welchen Angriffen sehen sich die armen Linksliberalen denn nun ausgesetzt? Ich zitiere und füge dabei nur eine Nummerierung hinzu:
Es sind meist folgende Themen, die diesen Raum besiedeln und die in unterschiedlichen Kombinationen miteinander addiert werden: (1) die Kritik an einer „kosmopolitischen“ und „globalistischen“ Klasse mitsamt ihrem migrationsfreundlichen und nachhaltigen Lebensstil; (2) die Ablehnung von gendersensibler Sprache und LGBTQ-Anliegen; (3) eine diffuse Skepsis gegenüber den Regierungsmaßnahmen während der Corona-Pandemie; (4) eine negative Haltung gegenüber Impfungen; (5) ein generelles Misstrauen gegenüber Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg und pro-ukrainischen Positionen, die man nicht selten als „kriegsbesoffen“ bezeichnet.
Danke, damit kann ich arbeiten.
(1) Da sind wohl die Anführungszeichen verrutscht! Bestimmt wollte man von der Kritik an einer kosmopolitischen und globalistischen Klasse mitsamt ihrem „migrationsfreundlichen“ und „nachhaltigen“ Lebensstil sprechen. Denn die Migrationsfreundlichkeit hört auf, wenn man überlegt, auf welche Schule die Kinder gehen sollen, und die Snacks für den Flug in den Süden im Bioladen zu kaufen ist keine Nachhaltigkeit.
(2) Sensibilität ist kein unbedingtes Gut. Gendersensible Sprache fordert Sensibilität in dritter Ordnung, die ich mal mit den Protagonisten aus Illustrationen zur Kryptographie erläutern will: der Sprecher (Alice) soll sensibel dafür sein, dass der mitlesende linksliberale Man-in-the-Middle (Mallory) sensibel dafür ist, dass der eigentliche Empfänger (Bob) sensibel bezüglich seines Mitgemeintseins sein könnte. Mallory, heul leiser! Und beschäftige Dich meinetwegen mit LGBTQ-Anliegen. Aber denk dran, dass die TQs nicht besonders sensibel gegenüber den LGBs (oder irgendjemandem sonst) sind.
(3) Diffus? Habt Ihr wirklich „diffus“ geschrieben? Ein neues Virus verbreitet sich irgendwann im Sommer 2019 auf der Welt, wird aber erst zum Problem, als fast alle Regierungen in Panik geraten, als alle vorher erarbeiteten Pandemieregeln über den Haufen geworfen werden, als von etablierten Behandlungsstandards abgewichen wird. Es werden intransparente Knebelverträge mit der Pharmaindustrie eingegangen und für eine wahnsinnige Summe neuartige Medizinprodukte gekauft, die als Impfungen angepriesen werden. Parallel dazu, dass diese sich als höchstens marginal wirksam, dabei aber nicht ungefährlich herausstellen, werden sie der Bevölkerung aufgezwängt; eine allgemeine Injektionspflicht in Deutschland wird nur deshalb nicht verhängt, weil die Abstimmung glücklicherweise gerade spät genug stattfindet; Menschen, die im medizinischen Bereich oder als Soldaten arbeiten, haben leider Pech. Es vergeht eine lange Zeit, bis der sehr wahrscheinliche Laborursprung des Virus diskutiert werden darf. Über die ganze Pandemie hinweg werden die Rechte der Bevölkerung massiv eingeschränkt. Unmengen an Kaffeefiltern müssen vor dem Gesicht getragen werden und haben doch keinen messbaren Effekt. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Und einen Untersuchungsausschuss hält man nicht für nötig. Vielleicht mögt Ihr meine Skepsis nicht, aber sie ist nicht diffus, sondern sehr konkret.
(4) Vor der Pandemie war Impfskepsis in Deutschland ein irgendwie „alternatives“ Randphänomen. Aber wenn umdefiniert wird, was eine Impfung ist (oder was ein Fall ist oder was Immunität ist oder was Nebenwirkungen sind oder was Impfzwang ist), verwundert da eine zunehmend negative Haltung in der Bevölkerung?
(5) Es fing mit 5000 Helmen an und der Bekundung, keine Waffen liefern zu wollen. Dann wurden irgendwann doch Waffen geliefert, immer schwerere noch dazu, aber mit dem Hinweis, dass die Lieferung von Kampfflugzeugen ausgeschlossen sei. Nun reden andere Staaten von eben dieser, und was wird in Deutschland passieren? Natürlich sind die ausgelöschten Menschenleben und alles durch Krieg verursachte Leid eine Tragödie, aber doch habe ich ein Déjà-vu: zuerst sind Masken wirkungslos, dann sollen wir uns selbstgenähte Lappen umbinden, dann müssen es chirurgische Masken sein und schließlich FFP2-Masken – und alles ohne Effekt auf das Infektionsgeschehen. Klar, ich würde auch nicht gerne unter der Herrschaft eines Staates wie Russland, der nun ganz bestimmt kein Rechtsstaat ist, leben wollen – aber wer von uns weiß schon, wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird?
Weder sehe ich mich als Teil der „anti-linksliberalen Koalition“ (warum eigentlich nicht die „anti-linksliberale Community“?) noch fordere ich, „dass alles so bleiben soll, wie es früher einmal war“. Aber ich wehre mich, so gut es eben geht, dagegen, den „beschleunigten Wandel sozialer Normen“ als unausweichlich anzusehen und aus Bequemlichkeit als fortschrittlich zu definieren. Liebe Linksliberale samt akademischen Händchenhaltern, wollt Ihr wirklich nicht mehr sein als kleine Rädchen in der Maschine?
Großartig! Kaum hatte ich mich an einer Formulierung gestört, bist du darauf eingegangen und hast dem "diffusen" Gefühl Gestalt verliehen. :D
Ich störe mich übrigens persönlich an der Verwendung der Begriffe links und rechts, speziell im Kontext der letzten Jahre. Das individuelle Verständnis divergiert einfach so stark, dass babylonische Verwirrung die einzige Konsequenz sein kann.
Für mich zum Beispiel ist ein arbeitsloser Neonazi mit Bomberjacke und Tarnhose sicherlich Rassist, Nationalist und hochwahrscheinlich gewalttätig, aber als ernsthaft rechtsextrem betrachte ich ihn nicht. Rechtsextreme sind meines Erachtens vor allem in dem etablierten Parteienkartell - sogar in der "Linken" - und natürlich in Konzernen und Finanzwesen angesiedelt.
Dass ich damit fast allein dastehe ist mir bewusst. Man muss aber anerkennen, dass das Verständnis der Begriffe - wie ihre Bedeutung selbst - eher auf einem Spektrum liegt, als dass sich mehrere klare Definitionen voneinander abgrenzen ließen.
Ein gutes Beispiel hierfür ist auch Tilo Jung's Statement Mao sei rechtsradikal gewesen. Ich würde ihm heute zustimme.
Oder hier: https://www.youtube.com/watch?v=Lnk2DRqUoGQ
Die NSDAP sei eine Linkspartei gewesen. Da würde ich widerum widersprechen.
Ausgezeichnete Kritik.
Evtl. besorge ich noch eine englische Übersetzung und poste die?