Manchmal wird es im Elfenbeinturm langweilig. Dann reißt man die Fenster auf und brüllt dem Volk unten im Hof etwas zu, wohl darauf bedacht, sich nicht zu weit hinauszulehnen. Bewährt hat sich die scheinbar neutrale Darstellung beider Seiten in einer Streitfrage, aber verbunden mit Abstraktion und der Behauptung, dass auf dieser höheren Abstraktionsebene, wenn doch nur alle in der Lage wären sie zu erreichen, sich die Streitfrage in Wohlgefallen auflöse.
Eben so gingen Juliane Jüngling und Geert Keil auf der philosophischen Seite der ZEIT vom 08.12.2022 vor. Die Streitfrage ist die Definition von „Frau“ und „Mann“, und auf der Abstraktionsebene soll angeblich „einiges dafür sprechen, dass „Frau“ und „Mann“ mittlerweile Bündelbegriffe sind“.
Zwecks Sicherstellung der nötigen Ehrfurcht des Volkes wird zur Erklärung des Begriffs „Bündelbegriff“ die „Sprachphilosophie Wittgensteins“ herangezogen:
Um die Struktur von Bündelbegriffen wie „Spiel“ zu illustrieren, verwendet Wittgenstein die Metapher der Familienähnlichkeit: Je zwei Mitglieder einer Familie haben etwas gemeinsam, aber es braucht kein einzelnes Merkmal zu geben, das allen Familienmitgliedern gemeinsam ist. Bündelbegriffe sind nicht über eine Menge von notwendigen und gemeinsam hinreichenden Bedingungen definiert, sondern durch einen Pool von Merkmalen, aus dem jedes einzelne Spiel eine andere Teilmenge erfüllt.
Nun hat Wittgenstein tatsächlich (in den „Philosophischen Untersuchungen“ (PU), Tz. 67) den Begriff der Familienähnlichkeiten genutzt, um zu illustrieren, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen „Spielen“ (oder auch „Zahlen“) bestehen, aber dabei, so scheint es mir, nie selbst von einem Bündelbegriff gesprochen. Vielleicht ist die diesbezügliche Literatur einer einfachen Internetrecherche nicht zugänglich, aber außer ein paar Philosophen, die sich über die Definition von „Krankheit“ den Kopf zerbrochen und dabei Wittgenstein bemüht haben, ist mir nicht viel begegnet.1
Sei’s drum. Wenn Jüngling und Keil solchen Gefallen an der Analogie zwischen „Spiel“ und „Frau“ gefunden haben („Der Umstand, dass für Würfelspiele ein Würfel notwendig ist, ändert nichts daran, dass auch Ballspiele Spiele sind. Der Umstand, dass in den meisten Frauen Eizellen heranreifen, schließt nicht aus, dass auch Menschen ohne Eizellen Frauen sein können.“), dann gehen wir doch gerne ein Stückchen mit, beispielsweise indem wir die folgende Umdichtung (aus Spiel mach Frau) von Wittgensteins Ausführungen (PU, Tz. 75) vornehmen:
Was heißt es: wissen, was eine Frau ist? Was heißt es, es wissen und es nicht sagen können? Ist dieses Wissen irgendein Äquivalent einer nicht ausgesprochenen Definition? So dass, wenn sie ausgesprochen würde, ich sie als den Ausdruck meines Wissens anerkennen könnte? Ist nicht mein Wissen, mein Begriff von der Frau, ganz in den Erklärungen ausgedrückt, die ich geben könnte? Nämlich darin, dass ich Beispiele von Frauen verschiedener Art beschreibe; zeige, wie man nach Analogie dieser auf alle möglichen Arten andere Frauen konstruieren kann; sage, dass ich das und das wohl kaum mehr eine Frau nennen würde; und dergleichen mehr.
Ja, was würde ich wohl kaum mehr eine Frau nennen? Ist es wie beim Spiel, das oft nicht für alle Beteiligten ein solches ist, was gerade den Reiz des Begriffs ausmacht? Man suche einmal nach „Spiel“ in der Krimi-Abteilung und wird Unmengen an Spielen finden, die gar keine solchen sind: gnadenlose Spiele, gefährliche Spiele, mörderische Spiele, dunkle Spiele, erbarmungslose Spiele, doppelte Spiele, todsichere Spiele, falsche Spiele, blutige Spiele, tückische Spiele, teuflische Spiele, gewagte Spiele, letzte Spiele, Spiele mit dem Feuer, Spiele auf Leben und Tod.
Während man also aus einem Spiel durch Hinzufügen eines Attributs etwas machen kann, das kein Spiel mehr ist, soll das gemäß Jüngling und Keil mit der Frau nicht möglich sein. Alles ist Frau, nur „müssen wir genauer darauf achten, in welchen Fällen welche Fasern des Bündelbegriffs „Frau“ relevant sind. Was wir nicht brauchen, ist eine Entscheidung quer zu allen Kontexten, wer denn nun alles in allem „wirklich“ eine Frau sei“.
Doch, genau das brauchen wir! Und auch wenn ich selbst des übertriebenen Einsatzes von „scare quotes“ schuldig bin, so scheint mir deren Anwendung auf die Wirklichkeit auf das eigentliche Problem hinzudeuten, nämlich auf die bockige Weigerung der Annahme derselben.2
Der Begriff der „Frau“ ist kein Bündelbegriff, sondern beschreibt zusammen mit dem Komplement „Mann“ die wirkliche disjunkte Aufteilung des allergrößten Teils der Menschheit. Bündelbegriffe haben kein Komplement in einer größeren Menge. Und sie können nicht erklären, nur beschreiben.3 Jüngling und Keil wissen das; dazu muss man nur einmal ihre Formulierungen sammeln, mit denen sie selbst „wirkliche“ Frauen beschreiben (die erste Wahl würde wohl auf „cis-Frauen“ fallen). Aber das können wir ihnen nicht sagen; das Fensterchen im Elfenbeinturm hat sich schon wieder geschlossen. Wenn ich lese, dass Geert Keil auch einen Band "Nachdenken über Corona" herausgegeben hat, dann graust es mir.
Im Englischen wird von “cluster concept” gesprochen; auch das findet man aber nicht in der gängigen Übersetzung der PU.
Siehe auch Uwe Steinhoffs Erwiderung.
Siehe diese interessanten Einlassungen zum Thema Bündelbegriff (“cluster concept”).
Ich mach mir die Welt wie sie wie sie mir gefällt. :D
Frau ist ein Bündelbegriff unter den auch solche Frauen fallen, die Testosteron supplementieren und deren Brüste amputiert wurden.