Wenn die Sau, die durchs Dorf getrieben wurde, eingefangen, verwurstet und gegessen ist, kann man so langsam Rückschau halten und die Schäden an der Bausubstanz begutachten. Losgelassen worden war das Biest kurz vor dem 24. Februar. Ab diesem Termin war nämlich die Neuauflage der Abenteuer von Jim Knopf („Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ und „Jim Knopf und die Wilde 13“) erhältlich, und schlechte Publicity gibt es nicht. Alle großen Online-Plattformen (beispielsweise SWR, Spiegel, Stern, WELT, taz, ZDF, Pro7, Rheinische Post, Tagesspiegel, ZEIT und Süddeutsche) nahmen dankbar die dpa-Meldung entgegen, passten sie im Detail an, nannten das Journalismus und schoben das Ergebnis schnell auf die Startseite.
Der Plattformleser gewinnt so den Eindruck (und der parallele Konsum verschiedener Plattformen verfestigt die Illusion der statistischen Relevanz), man habe im Wesentlichen an einigen wenigen Stellen gezielt Begriffe ersetzt oder ganz entfernt:
Das Wort „Neger“, das an genau einer Stelle vorkam und mit einer ganz bestimmten Intention des Autors, wurde gestrichen (und man überbietet sich im aufatmenden Jubel über das Verschwinden des bösen N-Worts).
In den Illustrationen wurde Jims Haut aufgehellt, und die Lippen wurden weniger wulstig gestaltet.
Jim darf nicht mehr Pfeife rauchen. Er bekommt keine solche mehr als Hochzeitsgeschenk, und auch hier wurden die Illustrationen retuschiert.
Die Assoziation zwischen „schwarz“ und „schmutzig“ wurde entfernt. Insbesondere darf Jim seine Hautfarbe nicht mehr als Ausrede dafür nutzen, sich nicht waschen zu müssen.
Nebenfiguren wurden degradiert. Ein Eskimojunge ist nun ein Inuit-Junge und ein Indianerjunge einfach nur noch ein Junge.
Es folgt mein Dienst am Leser, indem ich zusammenstelle, welche der obigen Punkte auf welchen der genannten Plattformen erwähnt wurden (grün):
Ich will mich damit gar nicht zu lange aufhalten. Schließlich wurden die Bücher auch in der Vergangenheit schon angepasst, auch zu Lebzeiten des Autors. In meiner Ausgabe ist etwa China schon zu Mandala geworden. Daher folgt nun jeweils nur ein Kommentar zu jeder Änderung:
Jetzt ist die WM 2014 schon zehn Jahre her. Wie sagte Rihanna? „My Nigga Klose“!
Gelle, Ihr Bunten wollt Eure Schwarzen nicht zu schwarz haben? Am liebsten so ein Meghan-Markle-Schwarz, vielleicht ein bisschen mehr (Rihanna-Schwarz, wenn wir schon dabei sind), aber auf jeden Fall mit einem ordentlichen Schuss Weiß. Zur Illustration kann man fast jeden Verkaufsprospekt aufschlagen. Hält das Angebot an schwarzen Models eigentlich mit der Nachfrage mit, oder verdienen sich da ein paar eine goldene Nase? Na, es sei ihnen gegönnt.
Lucky Luke durfte wenigstens noch auf einem Grashalm kauen.
Ich weiß, welcher Verbalaufwand betrieben werden muss, um eine Neunjährige zum Duschen zu bewegen, also nehme ich Jim auch ab, wenn er seine Hautfarbe als Argument anführt.
Da würde ich doch gerne wissen, was aus Stellen wie diesen geworden ist: „Der kleine Indianer träumte von seinem heimatlichen Wigwam und von seinem Großonkel, dem Häuptling „Weißer Adler“, der ihm eine neue Feder verlieh.“ Vielleicht: „Der kleine Junge träumte von seinem heimatlichen Vorstadt-Reihenhaus und von seinem Großonkel, dem Versicherungsvertreter, der ihm einen Werbekuli schenkte.“
Schluss damit.1 Diese Imitation von Journalismus hat nur einen Zweck, nämlich Traffic zu generieren. Egal wie man inhaltlich zu dem Thema steht, die Diskussion findet unter freiwillig teilnehmenden Erwachsenen statt. Viel bedenklicher sind Texte, die sich explizit an Kinder wenden. Gleichzeitig sind solche Texte aber besonders interessant, weil Floskeln vermieden werden und durch sprachliche Banalisierung die Einstellung und Intention des Verfassers klarer zutage treten. Die ZEIT preschte kürzlich vor und präsentierte in der Causa Jim Knopf ein „Aha der Woche“:
Das, was KAT („Keine Ahnung, trotzdem“?) da von sich gibt, ist bemerkenswert; vor allem, weil es praktisch keine Überschneidung mit der für die Großen verbreiteten dpa-Meldung gibt. Schauen wir mal hinein (Zitate aus den Büchern zur leichteren Unterscheidung kursiv):
Klassiker nennt man Bücher, die schon sehr alt sind, aber bis heute gelesen werden, etwa Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer aus dem Jahr 1960. Die Geschichte über Jim, der mit seinem erwachsenen Freund Lukas von der kleinen Insel Lummerland aus auf große Abenteuerreise geht, ist bald 65 Jahre alt – ein Buch-Opa sozusagen. Nun wurde er ein wenig aufgefrischt.
Auffrischen kann man sein Gedächtnis, seine Sprachkenntnisse, seine Vorräte oder seine Tetanusimpfung. Ziel ist die Wiederherstellung eines früheren Zustandes oder wenigstens eine Annäherung an diesen. Ob man einen Opa auffrischen kann, will ich mal offen lassen, aber was hier mit dem guten Jim Knopf passiert, ist keine Auffrischung, sondern eine Verkleidung. Oder wurden in Qumran Schriftrollen gefunden, die eine Rekonstruktion des Originaltexts von 1960 erlauben?
Die Bilder sehen etwas anders aus, und auch im Text wurde einiges geändert. Mädchen sind jetzt zum Beispiel genauso mutig wie Jungen. Bisher gab es eine Stelle, an der Lukas sich Sorgen macht, ob Mädchen eine gefährliche Fahrt übers Meer überstehen würden. In einer anderen Szene wird die Prinzessin Li Si mit einer Porzellanpuppe verglichen. Beides wurde gestrichen.
Die Stelle, an der Lukas sich Sorgen macht, ist in Kapitel 22 (von „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“) zu finden:
Lukas machte sich Sorgen wegen der Kinder. Wenn er mit Jim allein gewesen wäre, hätte ihm die Gefahr weiter nicht viel ausgemacht. Sie beide waren ja inzwischen an die wildesten Abenteuer gewöhnt. Aber die Kinder, wie würden sie diese Fahrt überstehen? Sie waren doch zum Teil noch ziemlich klein und außerdem waren ja auch Mädchen dabei. Sicher hatten sie scheußliche Angst. Aber jetzt konnten sie schließlich alle nicht mehr zurück und es war auch völlig unmöglich ihnen bei diesem Donnergetöse Trost und Mut zuzusprechen. Lukas konnte nichts tun als abwarten, was geschehen würde.
Abgesehen davon, dass einige sinnvolle Kommata der Rechtschreibreform zum Opfer gefallen sind, kann ich der Textstelle nichts Unerhörtes entnehmen. Wenn Lukas sich angesichts einer gefährlichen Situation besonders um die Mädchen Sorgen macht, dann hat er damit vermutlich sowohl empirisch als auch evolutionsbiologisch Recht. Und wenn „sie“ scheußliche Angst haben, dann können das auch „die Kinder“ sein. Manchmal muss man es eben auch einmal schaffen, nicht nur den letzten, sondern auch den vorletzten Satz im Gedächtnis zu behalten. Und schließlich wird später in der Geschichte2 die Handlung ganz wesentlich davon abhängen, dass Prinzessin Li Si furchtbare Angst hat und sich deswegen dumm verhält. Wie wohl mit dieser Episode umgegangen wurde?
Aber wie steht es mit der Porzellanpuppe? Dazu blättern wir zurück zu Kapitel 21, wo wir auch auf die sonstigen Zensierten aus aller Welt treffen:
An diesen Pulten saßen etwa zwanzig Kinder aus den verschiedensten Ländern, Indianerkinder und weiße Kinder und kleine Eskimos und braune Jungen mit Turbanen auf dem Kopf und in der Mitte saß ein ganz entzückendes kleines Mädchen mit zwei schwarzen Zöpfen und einem zarten Gesicht wie eine mandalanische Porzellanpuppe.
Die Zensoren unserer Zeit haben keinerlei Verständnis von Geschichte, gar von Zeit. Deswegen glauben sie auch, dass mit dem Tilgen von Begriffen eine neue Wirklichkeit geschaffen werden kann.3 Wenn aber eine Gesellschaft Porzellanpuppen hervorbringt, dann nur deshalb, weil die Vorbilder für diese Puppen zuerst da waren. Und wenn dann später ein Mensch „ein Gesicht wie eine Porzellanpuppe“ hat, dann kommt er diesem via Puppe ausgedrückten Ideal nahe. Sollen wir keine Ideale, keine Vorstellungen von Schönheit mehr haben und einfach alles gleichermaßen hinnehmen? Und muss mit der Porzellanpuppe dann nicht auch das „entzückend“ gestrichen werden? Und am besten die Zöpfe, die sind doch irgendwie reichsbürgermäßig (na gut, nur wenn sie blond sind). Am Ende bleibt wahrscheinlich so etwas übrig: „An diesen Pulten saßen etwa zwanzig Kinder, teilweise mit Migrationshintergrund, teilweise männlich, teilweise weiblich gelesen, und bei einem der letzteren drückte sich das Empowerment in der Frisur aus.“
Andere Teile sind umgeschrieben. Bisher sagte Li Si, dass sie einen Bräutigam wolle, der mutiger und klüger ist als sie, damit sie ihn bewundern kann. Nun sagt sie: „Ich möchte eben, dass mein Bräutigam nicht nur mutig ist, sondern dass er mir auch Briefe schreiben kann.“ Li Si lernt auch nicht mehr kochen und den Haushalt zu machen, sondern Kuchen zu backen und einen Laden zu führen.
Ich zitiere ein wenig aus Kapitel 26 (von „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“):
Und der Kaiser meinte: „Die Hochzeit könnt ihr dann später feiern, wenn ihr groß genug seid.“
„Ja“, sagte die kleine Prinzessin, „wenn Jim lesen und schreiben kann.“
„Ich will aber nicht solche Sachen lernen!“, rief Jim.
„Doch, bitte, Jim!“, bat Li Si. „Du musst lesen, schreiben und rechnen lernen! Tu es für mich!“
„Warum?“, fragte Jim. „Du kannst es doch selbst, wozu soll ich es dann auch noch lernen?“
Die kleine Prinzessin senkte ihr Köpfchen und sagte leise und stockend: „Jim, ich kann doch nicht – es ist nämlich – es geht doch nicht – also, ich möchte eben, dass mein Bräutigam nicht nur mutiger ist als ich, er soll auch viel klüger sein, damit ich ihn bewundern kann.“
„So“, sagte Jim und machte ein verstocktes Gesicht. […] Danach wurde über diese Sache nicht weiter gesprochen, aber Jim musste doch noch ab und zu an das denken, was die kleine Prinzessin zuletzt gesagt hatte.
Der Abschnitt ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass Michael Ende und Li Si etwas von spezifisch weiblicher und männlicher Psychologie verstanden hatten (genau wie Martin Baltscheit in der Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte). Mit der Änderung in der Neuauflage wird aus einem klugen Mädchen, das zu einer klugen Frau heranwachsen wird, bloß noch eine Prinzessin, die in erster Linie an sich denkt. Kuchen backen und einen gewöhnlichen Laden führen wird die bestimmt nicht…
Aber gehen wir doch mal ins letzte Kapitel (Kapitel 30) von „Jim Knopf und die Wilde 13“, in dem bisher gekocht wurde und nun wohl gebacken wird:
Li Si lernte bei Frau Waas kochen und den Haushalt führen [backen und einen Laden zu führen?] und ging mit Jim jeden Tag zu Herrn Ärmel in die Schule nach Lummerland. Im Übrigen regierten sie zusammen ihr Reich.
Wenn man ein Reich zu regieren hat, führt man es besser wie einen Haushalt oder wie einen Laden?
Michael Ende, der sich Jim Knopf ausgedacht hat, ist bereits 1995 gestorben. Der Verlag hat die Änderungen gemeinsam mit Endes Erben vorgenommen. Die denken, der Autor hätte sie richtig gefunden. Ende habe nicht geglaubt, dass Mädchen dümmer oder schwächer sind als Jungen. Das Buch entstand aber in einer Zeit, in der Mädchen benachteiligt waren. Frauen durften zum Beispiel nur arbeiten, wenn ihr Mann es erlaubte. Wie gut, dass diese Zeiten vorbei sind, nun auch im Buch. Die Verlegerin Bärbel Dorweiler sagt: „Dass Li Si heute von Frau Waas lernt, ein Geschäft zu führen, finde ich super: Ich bin auch Geschäftsführerin geworden.“
Ja, und heute dürfen Männer nur schreiben, wenn ihre Verlegerin es erlaubt. Wenn Frau Dorweiler wirklich möchte, dass alles, was ihr nicht gefällt, auch im Buch vorbei ist, dann empfehle ich ihr eine bewährte Maßnahme, nämlich das Verbrennen aller bisherigen Auflagen. In der schönen neuen Welt haben Frauen dann nicht mehr die Wahl, Geschäftsführerin oder irgendetwas anderes zu werden, sondern sie müssen Geschäftsführerin werden.
Es ist frustrierend: ein eifriger Lektor passt den Text so an, dass aus nicht dummen Mädchen dumme Mädchen werden, glaubt aber, er habe aus dummen Mädchen nicht dumme gemacht. Die eifrige Verlegerin merkt nichts und verkauft die dummen Änderungen freudestrahlend. Ein eifriger ZEIT-Redakteur macht schließlich daraus einen dummen Text, der Kinder für dumm verkauft. Und ich hätte natürlich gerne von einer Lektorin und einer Redakteurin geschrieben, weil ich Geld darauf wetten würde, dass hier jeweils Frauen am Werk waren, aber wenn ich es mit der Verweigerung des Genderns ernst meine und keine gesicherten Aussagen über das Geschlecht der Beteiligten habe, dann geht das leider nicht. Und jetzt habe ich genug geschrieben.
An schönen Abenden aber sah man Jim und Lukas immer nebeneinander an der Landesgrenze sitzen. Die untergehende Sonne spiegelte sich im endlosen Ozean und baute mit ihrem Licht eine goldene, funkelnde Straße vom Horizont bis vor die Füße der beiden Lokomotivführer. Und ihre Blicke folgten dieser Straße, die in weite Fernen führte, in unbekannte Länder und Erdteile, niemand konnte sagen, wohin.
Oder auch nicht: angesichts von Negern, Chinesen, Indianern und Eskimos kam mir Margret Birkenfelds Kinderlied „Ja, Gott hat alle Kinder lieb“ wieder in den Sinn, ein echter evangelikaler Gassenhauer. Die gute Margret Birkenfeld musste sogar auch noch erleben, wie ihr Lied kritisiert und umgedichtet wurde. Man lese dort die Kommentare und stelle fest, dass die Geisteshaltung genau die gleiche ist wie bei den Jim-Knopf-Zensoren. Wie kompliziert die Welt ist, sieht man natürlich auch daran, dass ich als Kind „Jim Knopf“ nicht hätte lesen dürfen, weil von Michael Ende und daher bestimmt irgendwie okkult…
Siehe Kapitel 22 von „Jim Knopf und die Wilde 13“ sowie:
Stephanie Jentgens (1995): Das Paradies der Kindheit. „Jim Knopf“ von Michael Ende. In: Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Bettina Hurrelmann, Fischer-Verlag, S. 234-251.
Hegel! Hegel! sagte Tante, die alle Gnostizismen kannte.