"Vor 200 Jahren wurde Rudolf Virchow geboren. Er revolutionierte die Medizin, er stritt für politische Freiheit und gegen den Antisemitismus. Doch nicht in allem war er frei von den Irrtümern seiner Zeit." So schreibt Christoph Dieckmann im Untertitel eines ganzseitigen Portraits in der ZEIT vom 07.10.2021. Da sind wir natürlich gespannt, welchen Unsinn der Mann geglaubt hat. Tatsächlich müssen wir aber bis fast ans Ende des Artikels lesen, bis wir es erfahren:
"Rassische Homogenität entlarvte er als Hirngespinst. 1886 war er Mitbegründer des Museums für Völkerkunde (das spätere Ethnologische Museum, dessen Exponate nun das Humboldt Forum beherbergt). Im selben Jahr initiierte er eine gesamtdeutsche Großuntersuchung. 6.760.000 Schulkinder wurden nach Haar-, Haut-, Augenfarbe und Schädelform rubriziert, jüdische Schüler in eigenen Listen. Das Ergebnis bestätigte Virchows These allgemeiner Mischkultur. Jede Nationalität sei "von zusammengesetztem Charakter". Virchow galt dies als kulturelles Positivum. Unstrittig jedoch war ihm zunächst die Rassenkunde als solche; er wollte sie empirisch unterfüttern. Rassentypologie verband er – unhierarchisch – mit geografischen Siedlungsräumen. Manches Zitat, etwa über "den Negertypus", zeigt, dass auch Gegner des Kolonialismus rassischen Denkmustern folgen konnten. Lebendige Anschauung boten dem Anthropologen Völkerschauen, wie sie Carl Hagenbeck in seinem Hamburger Tierpark veranstaltete. Virchows enorme Schädelsammlung, auch kolonial bestückt, lässt frösteln – nicht nur, weil wir heute wissen, dass Menschenrassen generell nicht existieren. Rudolf Virchow vermutete das zunehmend. Er war ein Gigant des naturwissenschaftlichen Aufbruchs, ein fortschrittsgläubiger Resident des 19. Jahrhunderts, mit dem er verging. [...]"
Rudolf Virchow beging also gleich zwei Irrtümer: erstens schreckte er nicht davor zurück, Daten zu sammeln, auch wenn die Schlussfolgerungen, die aus dem Studium der Daten zu gewinnen wären, vielleicht ihm selbst oder anderen nicht gefallen würden. Und zweitens drückte er seine Erkenntnisse in der Sprache seiner Zeit aus, so dass sie von seinen Zeitgenossen verstanden werden konnten.
Auch Herr Dieckmann ist nicht in allem frei von den Irrtümern seiner Zeit. Und auch nicht von denen seiner ZEIT.