Heute hören wir uns einen Poetry-Slam-Vortrag von Sarah Bosetti aus dem Jahr 2018 an (meine Transkription; die Interaktion mit dem Publikum habe ich weggelassen):
"Guten Abend! Ich bin eine Frau – das sage ich immer vorher, weil‘s sonst keiner merkt. Ich habe mir so gedacht, weil wir Frauen können ja jetzt nicht so viel, und deswegen möchte ich über ein Thema sprechen, das Frauen betrifft und über das sich nie jemand freut, nämlich Feminismus. […] Ich finde Feminismus auch ganz furchtbar nervig. Tatsächlich! Er macht mich wahnsinnig! Feminismus: er quält mich, geht mir so sehr auf die Nerven, dass ich wünschte, ich hätte einen Sack, auf den er mir gehen könnte. Die politische Korrektheit, die Humorlosigkeit, die Sätze, die immer länger und länger werden, weil man überall ein -innen dranhängen muss... Er ist so unpoetisch, so unsexy, so anstrengend, und er hat einen doofen Namen. Gendern ist hässlich und umständlich und verwandelt die Schönheit eines jeden Satzes in Scheiße. Nicht mal „man“ darf man noch sagen – überhaupt darf „Mann“ überhaupt nichts mehr sagen, vor allem nicht über Frauen, egal wie tautologisch es auch sein mag. Wenn ein Mann sagt: „Frauen sind, wie Frauen sind.“, kommt bestimmt hinter irgendeinem Busch eine Feministin hervor gesprungen und ruft, was für eine unverschämte verallgemeinernde und sexistische Äußerung das doch sei."
Klingt alles plausibel - bis auf die Behauptung, Frauen könnten nicht viel. Aber anfängliche Selbsterniedrigung ist ja eine bewährte rhetorische Technik, wenn man später Kritik üben, den Schlag aber abmildern will. Ich nehme zunächst einmal mit, dass es auf der Welt wohl Humor, Poesie, Sexyness, Leichtigkeit, Direktheit, Schönheit und Freiheit gibt, dass aber der Feminismus sich all dem entgegenstellt. Aber was genau ist dieser Feminismus?
"Versteht mich nicht falsch: ich bin diese Feministin – aus voller Überzeugung! Es fühlt sich nur seltsam an, einem -ismus anzugehören, von dem man wünscht, es gäbe ihn nicht. Ich glaube nicht, dass zum Beispiel Buddhisten auch wünschten, es gäbe keinen Buddhismus, oder Kapitalisten, es gäbe keinen Kapitalismus, aber ich wünschte, es gäbe keinen Feminismus. Er ist ein Kampf, und Kämpfe sind immer kacke, aber leider sind nicht alle Kämpfe grundlos. Niemand muss Feminismus toll finden. Er ist ja kein Hobby! Wenn du ein Hobby suchst, kauf dir ein schnelles Auto – also wenn du ein Mann bist. Wenn du eine Frau bist, lern stricken. Feminismus ist wie das Kondom, das man erst noch kaufen gehen muss, obwohl man schon nackt zusammen im Bett liegt. Ohne wäre es einfacher, aber langfristig eben nur für den Mann. Er ist ein notwendiges Übel – also der Feminismus, nicht der Mann – aber das ist eben der Punkt: er ist notwendig. Wenn ihr also genervt seid vom Feminismus – und wie gesagt, dafür habt ihr mein vollstes Verständnis – dann entzieht ihm doch seine Notwendigkeit! Der Feminismus hat nämlich neben all den anderen unsympathischen Eigenschaften noch eine weitere: er hat recht!"
Aha! Wie schön, dass wir in Corona-Zeiten leben; das verschafft uns ganz neue Analogien. Ein Virus muss bekämpft werden, das die Gesellschaft befallen hat, und das wird kein Spaß.
"Er ist der kleine nervige Streber in der ersten Reihe, den niemand ausstehen kann, der im Deutschunterricht anfängt, die Grammatik der anderen zu berichtigen, bis ihn sogar der Lehrer hasst. Alle wissen, dass es stimmt, was er sagt, aber niemand hat Lust ihm zuzuhören. Und natürlich könnt ihr ihn dafür in die Mülltonne stecken, um einen Tag lang Ruhe zu haben, aber glaubt ihr wirklich, dass er davon weggeht oder cooler wird? Ladet ihn lieber mal zu einer Party ein. Sozialkompetenz lernt man nicht in Mülltonnen."
Das ist zwar ein plastisches Bild, scheint mir aber das Ziel zu verfehlen. Den nervigen kleinen Streber in der ersten Reihe kann deswegen niemand ausstehen, weil reine Korrektheit nicht alles ist. Alles hat seine Zeit, und die Mitschüler werden bis zum Schulabschluss noch genug Gelegenheit haben, an ihrer Grammatik zu arbeiten. Und soll ich mitnehmen, dass man Feministinnen mal zu einer Party einladen sollte? Oder dass es ihnen an der Sozialkompetenz gebricht?
"Natürlich nervt Feminismus! Jede Instanz, die uns sagen will, was wir tun sollen, nervt: unsere Eltern, Lehrer, die Polizei, morgendliche Radiomoderatoren, die verlangen, dass wir den Tag genießen, Kalendersprüche, die verlangen, dass wir jeden Tag genießen – es nervt alles, aber recht hat der Feminismus trotzdem."
Dieser Absatz enthält kein Argument. Der Feminismus kann ja nicht recht haben, weil er nervt. Also weiter...
"Und eigentlich wissen wir das doch alle, dass wir nur Menschen anfassen sollten, die von uns angefasst werden wollen, dass wir Leute nicht auf ihre Körper reduzieren sollten, egal wie viel davon sie zeigen, dass man Frauen nicht Fotzen und Kampflesben und Emanzen und Bitches nennen und in separate Zugabteile sperren sollte."
Männer, lasst Euch nicht anfassen: Ihr geht dann zusätzliche Risiken ein! Menstrip, pfui! Frau Dr. Bitch Ray, Sie haben es nicht verstanden! Mitteldeutsche Regionalbahn, schäm Dich! Was genau hat das nun mit Feminismus zu tun?
"Bezahlt Frauen gleich gut wie Männer, haltet euch von ihrer Würde fern und erniedrigt sie nicht – es sei denn, das ist nun mal ihr Fetisch, dann immer los. Haltet sie nicht für unfähig, Unternehmen zu leiten oder Autos zusammenzuschrauben, denn beides tut man meines Wissens nicht mit dem Penis. Und wenn ihr doch mit dem Penis Autos zusammenschrauben könnt, geht nach Hause, dreht Youtube-Videos und werdet reich, aber seid trotzdem keine Arschlöcher."
Natürlich sind die meisten Frauen nicht fähig, Unternehmen zu leiten oder Autos zusammenzuschrauben - ebenso wie die meisten Männer. Und natürlich gibt es sowohl Frauen als auch Männer, die fähig sind, Unternehmen zu leiten oder Autos zusammenzuschrauben. Aber mal angenommen, man könnte die Fähigkeit ein Unternehmen zu leiten eindeutig erkennen. Würde man aus der Menge aller Fähigen zufällig eine Person ziehen, mit welcher Wahrscheinlichkeit wäre es eine Frau?
"Feminismus wird man nicht los, indem man ihn bekämpft. Feminismus wird man los, indem man Sexismus bekämpft, und wenn der Kampf ausgefochten ist, dann können die Feministen stricken lernen und die Feministinnen schnelle Autos kaufen, die ihr und eure Penisse zusammengeschraubt habt, und dann können wir uns endlich alle wieder mit anderen Dingen beschäftigen."
Geschafft! Dieser letzte Absatz reicht eigentlich aus, um über die Einordnung des Phänomens Feminismus zu diskutieren (der Rest des Vortrags ist durchaus unterhaltsam, aber auch nicht viel mehr). Zuvor sollten wir aber ein paar Brocken aus dem Weg räumen, die den Blick verstellen könnten:
Werden Menschen von anderen Menschen schlecht und ungerecht behandelt? Na klar!
Gibt es schlechte oder ungerechte Behandlungen, die mehrheitlich oder ausschließlich Frauen widerfahren? Na klar!
Gibt es schlechte oder ungerechte Behandlungen, die mehrheitlich oder ausschließlich Männern wiederfahren? Na klar!
Leben wir in der besten aller bisherigen Zeiten und dabei in einer der freiesten aller Gesellschaften? Na klar!
Sollten Frauen und Männern die gleichen Rechte und die gleiche Würde zugestanden werden? Na klar!
Gibt es Situationen, in denen Frauen und Männer unterschiedlich behandelt werden sollten? Na klar!
Sind Frauen und Männer verschieden? Na klar!
Wer sich meinen Antworten anschließen kann, braucht vielleicht Lösungen für konkrete Probleme, aber kein Konzept namens Feminismus. Für alle anderen möchte ich drei Interpretationen präsentieren:
1. Die Gesellschaft ist von einem Virus namens Sexismus durchdrungen, und Feminismus ist die gute Virologin, die uns ein Schreckensszenario ausmalt und einen umfassenden Lockdown fordert. Bis dieser Lockdown beendet ist, soll sich kein Mann einbilden, stricken zu dürfen, und keine Frau, ein schnelles Auto kaufen zu dürfen!
Dies ist offenbar die Perspektive, die Frau Bosetti einnimmt. Aber wann kann der Lockdown beendet werden, und besteht überhaupt ein Interesse an seinem Ende? Sind wir nicht eher in der Abklingphase und müssen damit leben, dass das Virus hier und da noch einmal ein wenig ausbricht? Anderswo auf der Welt mag das Virus noch schrecklich wüten (ich sage mal: in Saudi-Arabien), aber das kümmert uns nicht sehr.
2. Die Gesellschaft ist von einem Virus durchdrungen, der das menschliche Gehirn befällt, und Feminismus ist (wie Postmodernismus, Sozialkonstruktivismus, Intersektionalität, Identitätspolitik, usw.) ein Symptom dieses Virus. Die Universitäten des Westens sind die Orte, an denen das Virus immer wieder ausbricht, und dort muss es bekämpft werden.
Dies ist die Perspektive, die beispielsweise Gad Saad einnimmt und eloquent und unterhaltsam darlegen kann. Sie hat einen gewissen Charme; man könnte beispielsweise schön von verschiedenen Strängen des Virus sprechen - und schnell auf die Idee kommen, dass in schlimmen Fällen kaum Hoffnung auf Heilung besteht. Aber gerade das gefällt mir nicht. Ein Virus ist ein Feind ohne eigenen Verstand, der nur bekämpft und ausgerottet werden kann; und will ich so über andere Menschen denken?
3. Feminismus füllt (zusammen mit anderen Ideen) als Ersatzreligion eine metaphysische Leerstelle in der modernen westlichen Gesellschaft. Hierzu Douglas Murray: "Whatever else they lacked, the grand narratives of the past at least gave life meaning. The question of what exactly we are meant to do now – other than get rich where we can and have whatever fun is on offer – was going to have to be answered by something. The answer that has presented itself in recent years is to engage in new battles, ever fiercer campaigns and ever more niche demands. To find meaning by waging a constant war against anybody who seems to be on the wrong side of a question which may itself have just been reframed and the answer to which has only just been altered. [... These wars] are consistently being fought in a particular direction. And that direction has a purpose that is vast. The purpose – unknowing in some people, deliberate in others – is to embed a new metaphysics into our societies: a new religion, if you will."
Dieser Ansicht schließe ich mich an, weil sie diejenige ist, die Hoffnung zulässt. Ja, es kann zu Kreuzzügen, Hexenverbrennungen, Exkommunikation, Bildersturm und Attentaten kommen. Es kann aber auch eine gemäßigte Konfession entstehen, die niemandem weh tut, oder auf andere Weise Sinn gefunden werden. Und mit anderen Dingen beschäftigen können wir uns sowieso.