Im ZEIT MAGAZIN vom 26.06.2019 schreibt Lilli Heinemann in "Stilles Erbe" über ihren Großvater, der in der Lage war, den Männern, die seine (erste) Familie ausgelöscht haben, zu vergeben und diese Vergebung in Taten auszudrücken. Für ihn als Mitglied einer evangelischen Freikirche (was nicht kausal zu sehen ist; weiß Gott nicht, wenn ich das mal so sagen darf) war dies ein Ausdruck des Gebotes der Nächstenliebe. Aber wie schwer tut sich die Autorin gegen Ende ihres Artikels: "Ich bewundere meinen Großvater dafür, dass er vergeben konnte, verstehe aber auch nach der Recherche nicht, wie er dazu in der Lage war. Die Vergebung muss für ihn auch eine Überlebensstrategie gewesen sein, um den traurigen Gefühlen möglichst wenig Raum zu geben. Vielleicht war es der einzige Weg, den er gehen konnte, um weiterzuleben. Aber wo war seine Wut, wo war sein Schmerz? Und was bedeutet seine Unfähigkeit, diese Gefühle zuzulassen, für mich?"
Und noch eine Geschichte: Anfang Juli 2019 wurde über eine Predigt des katholischen Priesters Ulrich Zurkuhlen in Münster berichtet, die zum Eklat führte. Eine Aufzeichnung scheint es nicht zu geben; hier wird das Geschehen so zusammengefasst: "Nach Auskunft von Teilnehmern des Gottesdienstes hatte Zurkuhlen in seiner Predigt zunächst von zwei Frauen erzählt, deren Gespräch er zufällig mitbekommen habe. Sie hätten unablässig von sich und ihren Befindlichkeiten gesprochen und sich schließlich massiv abfällig über ihre verflossenen Ehemänner geäußert. Zurkuhlen warb dafür, einander auch vergeben zu können und bezog diese Äußerung auf Priester, die als Täter Minderjährige sexuell missbraucht haben. Auch ihnen müsse vergeben werden. Im Gespräch mit „Kirche-und-Leben.de“ bestätigte Zurkuhlen diese Darstellung." Gottesdienstbesucher verließen die Kirche; in der Kirche wurde lautstark protestiert; der leitende Pfarrer äußerte anschließend, dass "das hier gar nicht ging"; und am Ende versetzt der Münsteraner Bischof Pfarrer Zurkuhlen in den vorzeitigen Ruhestand, verbunden mit Kürzung der Bezüge, Entzug der Beichtvollmacht und Predigtverbot.
Auf die theologische Dimension (Muss vergeben werden? Heißt vergeben auch vergessen? Ab wann "darf" vergeben werden?) will ich gar nicht mal eingehen, aber auf die kollektiv-psychologische. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass wir heute den Status des Opfers überhöhen. Wer Opfer ist, soll dies auch bleiben. Die Ablehnung des Opferstatus durch den Einzelnen kann nur als Defizit erklärt werden (eine Überlebensstrategie, eine Unfähigkeit - siehe oben), Alternativen können nicht einmal diskutiert werden. Wir schaffen uns eine trostlose Welt mit einem trostlosen Menschenbild.