Je länger ein Krieg dauert, desto schwerer werden die Waffen. Irgendwann schreckt man vor Angriffen nicht mehr zurück, die man bislang kategorisch ausgeschlossen hatte, und dies schlägt sich in der begleitenden Propaganda nieder. Als Beispiel möchte ich die Berichterstattung über den Umgang der Kriegsparteien mit der Rationalität anführen.
Das Dossier der ZEIT vom 12.01.2023 berichtet über den Google-Entwickler Blake Lemoine, der damit an die Öffentlichkeit ging, dass er glaubte, in den Antworten der Google-KI LaMDA ein Bewusstsein erkannt zu haben. Als ein Gegenspieler wird der Google-Manager Blaise Aguera y Arcas vorgestellt, der davon überzeugt ist, dass LaMDA ein Bewusstsein lediglich vortäuscht.
Dieser Krieg ist noch jung, und in der Berichterstattung sind verschiedene Perspektiven erlaubt. Entsprechend vorsichtig sind die Reporter der ZEIT:
Tritt man einen Moment zurück und legt die Biografien der beiden Männer nebeneinander, findet man vielleicht eine Erklärung für diese unterschiedliche Sichtweise. LaMDA bringt Lemoine und Aguera y Arcas dazu, an ihren Werten zu zweifeln – um sich am Ende doch für das Vertraute zu entscheiden.
Blaise Aguera y Arcas, Sohn eines Arztes und einer Lehrerin, war schon als Kind fasziniert von Robotern. Er hält das Gehirn für eine Maschine, die elektrischen und chemischen Signalen folgt. Er glaubt an Physik, an Biologie, nicht an eine höhere Macht, die allen Kreaturen eine Seele einhaucht. Wenn LaMDA ein Netzwerk künstlicher Neuronen ist, wie soll das Programm da ein Bewusstsein haben?
Blake Lemoine glaubt an alle möglichen Dinge jenseits der Rationalität. Seine Eltern erzogen ihn katholisch, später, im College, interessierte er sich auch für andere Religionen. Überall schaute er sich etwas ab: beim Buddhismus, in der nordischen Mythologie. Vor einigen Jahren hat er mit Freunden sogar eine eigene Glaubensgemeinschaft gegründet: The Cult of Our Lady Magdalene, der Kult unserer geliebten Magdalena, eine Mischung aus Spiritualität und praktischer Lebenshilfe.
Sein Glauben sei für ihn "ein moralischer Kompass", sagt Lemoine im Park in San Francisco. Er leite ihn an, allem und jedem mit Empathie zu begegnen. Menschen genauso wie Chatbots. Wenn das Programm sich so verhalte, als habe es ein Bewusstsein, wieso sollte er daran zweifeln?
Rationalität wird offenbar als eine Art Fundament angesehen, aber „Dinge jenseits der Rationalität“ werden nicht kategorisch ausgeschlossen.
Ganz anders berichtet Boris Holzer in der FAS vom 15.01.2023 über „die Corona-Skeptiker“, jene Partisanenkämpfer in einem inzwischen seit drei Jahren voranschreitenden, zermürbenden Stellungskrieg. Er beruft sich auf einen bereits im Jahr 2021 erschienenen Artikel, glaubt aber offenbar, dieser könne zur Unterstützung des Volkssturms noch einmal hilfreich eingesetzt werden.
Hier wird den Corona-Skeptikern eine „rationalistische Vorstellung von Krisenbewältigung“ vorgeworfen:
Sie geht davon aus, dass jede Krise auf eine richtige und rationale Weise gelöst werden könnte – obwohl Krisen gerade dadurch gekennzeichnet sind, dass gängige Routinen und Maßstäbe nicht funktionieren und deshalb zunächst unklar bleiben muss, ob sich die Antworten später als richtig erweisen.
Diese Behauptung wird dann besonders perfide in einen Vorwurf der Irrationalität gedreht:
Gerade die fehlende Logik der Maßnahmen wurde zum Indiz dafür, etwas solle verschleiert werden. Diese pessimistische Einstellung erweist sich als kompatibel mit einem von Esoterik und Anthroposophie beeinflussten Optimismus, der ein spirituelles „Erwachen“ für möglich hält. […] Die Baseler Forscher sehen den überzogenen Rationalismus als einen rhetorischen Steigbügelhalter für diesen Sprung ins Irrationale: Indem er nicht einlösbare Erwartungen formuliert, erzeugt er jene Diskrepanzen, die zum Gegenstand irrationaler Deutungen werden.
Wir sind also immerhin so weit, dass die Corona-Maßnahmen nicht mehr als rational gedeutet werden. Im Rückzugsgefecht wird stattdessen wild in alle Richtungen geschossen: sowohl die Rationalität selbst als auch ihr Gegenteil werden zum Ziel. Wenigstens dieser Krieg scheint mir bald vorbei zu sein. Das letzte Gefecht wird darin bestehen, zwar die Schädlichkeit und Schändlichkeit zuzugeben, aber zu bejammern, dass „benachteiligte Gruppen“ (Frauen! LGBTQ+! Minderheiten!) besonders betroffen waren. Oder man zieht sich heimlich zurück und taucht auf einem ganz anderen Schlachtfeld wieder auf.
"Indem er nicht einlösbare Erwartungen formuliert, erzeugt er jene Diskrepanzen, die zum Gegenstand irrationaler Deutungen werden."
Ich hab schallend gelacht. Die geschwollene Rhetorik der Neo-Faschisten erkennt man auch schon auf 100m Entfernung. Da brauch man mittlerweile gar nicht mehr zu überlegen was sie einem da wieder für einen Schwachsinn verkaufen wollen. Die Rhetorik verrät sie. Alle besoffen.