Nun wurde die CDU doch nicht zerstört, und an das Youtube-Special des Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 16.06.2019 erinnert sich bestimmt auch schon wieder kaum jemand. Dabei war es so aufregend! Denn auf Youtube "entwickeln sich neue Formen des Ausdrucks und der Rezeption, deren Wechselwirkung überhaupt erst im Ansatz erkennbar ist: die neue Dynamik des Dialogs, die ungenierte Inszenierung von Authentizität, die fatalen Spiralen ständiger algorithmischer Bestätigung, ...". Nach meiner bescheidenen Erfahrung bietet YouTube fantastische Möglichkeiten; man sollte sich nur an die Regeln halten, die man bei Recherchen in anderen Medien seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten kennt: sich Zeit nehmen, Leute ausreden lassen, nicht nur auf eine Quelle beschränken, keine vorschnellen Urteile fällen.
Das scheint mir in mindestens zwei Fällen schiefgegangen zu sein. Da ist (im Beitrag "Das Who is Who der Rechtsextremen" von Diba Shokri) die Rede von Milo Yiannopoulos, der "Provokateur sein will und rechter Demagoge ist". Wenn man sich mit dem Mann etwas ausführlicher beschäftigt, beispielsweise Interviews bis zum Ende schaut (also im Medium bleibt) oder seine vier Bücher liest (also das Medium wechselt), könnte man vielleicht eher zu der Einsicht gelangen, dass er Provokateur ist und kein rechter Demagoge sein will - als schwuler, mit einem Schwarzen verheirateter konservativer Katholik jüdischer Herkunft vielleicht nicht überraschend. Zur ambivalenten "rechten" Rezeption von Yiannopoulos muss man nur einmal die Kommentare unter dem im Artikel diskutierten YouTube-Video lesen...
Das zweite Beispiel stammt aus dem Artikel über ContraPoints ("In Wahrheit stehst Du im Zirkus" von Silke Weber): "Sie dekodiert als einfache Selbsthilfebotschaften verpackten Hass wie zum Beispiel in dem Video über den Psychologen, Vortragsreisenden, Influencer und "Verteidiger alter Werte" Jordan Peterson." Hass? Auf wen? Ich kann nur meine Tipps wiederholen: Vorträge und Interviews anschauen! Bücher lesen! Und - jetzt bin ich gemein - nicht nur auf Wikipedia abschreiben, wie toll ContraPoints "eine Art sokratischen Dialog" entstehen lässt...
Schließlich illustriert der Artikel ein Dilemma des modernen Menschen: konsequent wird Natalie Wynn als Frau beschrieben - schließlich scheint sie diese ihre geschlechtliche Identität selbst gewählt zu haben, und die aktuelle Wahl soll allseits respektiert werden. Gerade das nicht vergessende Medium YouTube im Allgemeinen und die Historie des Kanals ContraPoints im Besonderen sperren sich aber gegen dieses Primat der Gegenwart vor der Vergangenheit. Aber um das zu entdecken müsste man sich ja wieder Zeit nehmen.
Anmerkung vom 08.11.2022: Den weiteren Werdegang von Milo Yiannopoulos hat wohl niemand vorhergesagt. Und die Historie des YouTube-Kanals ContraPoints wurde irgendwann stark bereinigt.