Kürzlich fühlten sich alle großen Medien praktisch gleichzeitig gedrängt, die Frage nach der Meinungsfreiheit aufzuwerfen: die ZEIT, nochmal die ZEIT, die WELT, die FAZ, der Tagesspiegel - sogar die Bundeskanzlerin und der Bundespräsident äußerten sich. Ist die Meinungsfreiheit nun in Gefahr? Ich denke nicht - wohl aber unsere Fähigkeit oder unser Wille, zwischen Meinungen, die einfach nicht unserer eigenen entsprechen, und Meinungen, denen wir entgegentreten sollten, zu unterscheiden. Zudem scheint uns die Bindung einer Meinung an einen Zeitpunkt abhanden zu kommen.
Im ersten der oben zitierten Artikel fallen mir einige Stolpersteine auf. Zunächst einmal unterscheidet sich die am 24.10.2019 veröffentlichte Print-Version von der Online-Version (was auch kenntlich gemacht wird). Dafür gibt es einen Grund. Ein Anstoß für die Debatte um die Meinungsfreiheit war nämlich die von Protesten begleitete Wiederaufnahme der Vorlesungstätigkeit durch Bernd Lucke. Die Print-Version des Artikels endete noch: "Nach Bernd Luckes geplatzter Vorlesung haben fast alle Parteien in Hamburg das Geschehen verurteilt. Medien haben berichtet. Auf Twitter war die Schreispirale auf voller Lautstärke. Aber einen Tag nach seinem ersten Anlauf hat Bernd Lucke ein Seminar an der Uni gehalten. Störungsfrei." Aber noch Wochen später scheint es nicht ohne Polizeischutz zu gehen.
Es stimmt auch nicht, dass "kürzlich ein Gericht urteilte, es sei keine Beleidigung, die Politikerin Renate Künast ein "Stück Scheiße" zu nennen". Das Gericht hat kein Urteil gefällt, sondern einen Beschluss gefasst; und es hat keinen Freibrief zur Beleidigung erteilt, sondern dargelegt, dass im konkreten Fall die (durchaus unschönen) Bezeichnungen im Zusammenhang mit einer Äußerung Künasts standen. Jedenfalls sah das Gericht keinen Anlass, die Plattform, auf der die Äußerungen getätigt wurden, zur Herausgabe der Nutzerdaten zu verpflichten. Ob man Politiker aufgrund von Aussagen, die sie vor vielen Jahren in einem anderen gesellschaftlichen Klima getätigt haben, derart angehen muss, steht natürlich auf einem anderen Blatt.
Tut es das? "Nicht jeder Widerspruch ist gut, zumal dann nicht, wenn er statt veränderbarer Auffassungen des anderen dessen unveränderbare Eigenschaften wie Geschlecht, Hautfarbe oder Religion angreift." Na, wenn schon die Religion als unveränderlich angesehen wird (und über das Geschlecht könnte man natürlich auch viel sagen...), dann sind andere Meinungen es vielleicht auch, und dann ist auch Renate Künast ganz bestimmt heute noch jederzeit zur Verteidigung von ("gewaltfreien") Pädophilen bereit...