Heute schüttet uns Thembi Wolf auf bento ihr Herz aus. Sie hat ein Recht auf ihre Meinung und darf sie auch gerne äußern. Mir soll es hier um einen konkreten Aspekt gehen, der vielleicht dazu gereichen kann, ein gesellschaftliches Problem zu erhellen.
Thema sind die möglichen Auswirkungen des Klimawandels auf nachfolgende Generationen ("unsere Kinder"!). Unter anderem wird gefragt: "Wie werden sie mit den fünf bis zehn schweren Hitzewellen jährlich klarkommen?" Trotz der Hervorhebung (im Original) ist kein Link angegeben; an anderer Stelle wird aber auf einen Artikel von Lena Puttfarcken auf Spiegel Online vom 24.09.2018 verwiesen. Ich zitiere: "Zumindest in Süddeutschland wird es 2100 mehr Hitzewellen geben - in einem moderaten Klimaszenario fünf bis zehn Hitzewellen mehr pro Jahr. Im Norden Deutschlands verändert sich das kaum, berechneten Daniela Jacob vom Helmholtz-Zentrum Geesthacht und ihre Kollegen. Eine Hitzewelle definierten sie, wenn die Temperatur drei Tage hintereinander einen bestimmten Schwellenwert überschritt." Quelle ist hier ein Paper mit vielen, vielen Autoren aus dem Jahr 2013.
Dann schauen wir doch mal hinein! Es werden zwei Definitionen von Hitzewelle (heat wave) verwendet - und es wird lobenswerterweise darauf hingewiesen, dass bei der Kommunikation von Ergebnissen aus dem Paper die genaue Unterscheidung wichtig ist. Ich beschränke mich auf die mildere Definition (die mehr Hitzewellen erzeugt): "Heat waves were considered as periods of more than three consecutive days exceeding the 99th percentile of the daily maximum temperature of the May to September season of the control period (1971–2000)." Es liegen also 30 * 153 = 4590 Temperaturmessungen vor. Das 99-Perzentil entspricht in etwa dem 46st-größten Wert. Soweit ich sehe, wird dieser im Paper nicht genannt, und mir ist auch nicht klar, ob die nachfolgenden regionalen Untersuchungen auf regionalen Perzentilen oder "dem" europäischen Perzentil basieren. Einerlei - im Zeitraum 1971-2000 kann es insgesamt höchstens 11 Hitzewellen gemäß dieser Definition gegeben haben (weil 12 * 4 > 46).
In Abbildung 8 des Papers wird nun dargestellt, um wieviel sich in den Simulationen die Anzahl der Hitzewellen im Zeitraum 2021-2050 bzw. 2071-2100 von der Anzahl der Hitzewellen im Zeitraum 1971-2000 unterscheidet. Praktisch in allen Fällen steigt die Anzahl der Hitzewellen - was auch nicht verwunderlich ist, da ja eine Erwärmung simuliert wird. Entscheidend ist aber, dass sich die dargestellten Werte jeweils auf einen Zeitraum von 30 Jahren beziehen. Wer's nicht glaubt, möge den Fall Südeuropa mit einem angegebenen Anstieg um 45 Hitzewellen betrachten. 45 Hitzewellen à vier Tage mit jeweils einem kühlen Tag dazwischen benötigen 224 Tage - das passt ja gar nicht in den Zeitraum von Mai bis September!
Was ist nun aber passiert? Frau Puttfarcken versteht das Paper falsch und spricht von "fünf bis zehn Hitzewellen mehr pro Jahr". Frau Wolf übernimmt diese Aussage ohne kritische Prüfung und macht die Hitzewellen sicherheitshalber auch noch "schwer". Im nächsten Absatz spricht sie zudem von "der Hitzewelle im vergangenen Sommer", verwendet also unbekümmert denselben Begriff für zwei unterschiedliche Sachverhalte. Ein ähnlich denkender (oder soll ich sagen: ähnlich wenig denkender?) Leser könnte nun die Horrorvision eines Sommers vor Augen haben, der fünf- bis zehnmal so schlimm ist wie der Sommer des Jahres 2018. In Wirklichkeit müssen wir, wenn das Szenario eintritt, nur damit rechnen, in etwa in zwei von drei Jahren statt in einem von drei Jahren eine Hitzewelle (gemäß Definition) zu erleben.
Wir könnten in der Gesellschaft (oder zumindest in den Medien) wirklich etwas mehr Numeracy gebrauchen: die Fähigkeit, Begriffe in einem gegebenen Kontext nicht außerhalb ihrer Definition zu verwenden, und die Fähigkeit, durch Überschlagsrechnungen elementare Fehler zu vermeiden. Dann könnten wir in der emotionalen Kakophonie vielleicht diejenigen Stimmen besser hören, die tatsächlich Lösungen anbieten.
Anmerkung vom 08.11.2022: bento (oder, wie Henryk M. Broder es nannte, “die Kinderseite des Spiegel”) ist schon lange Geschichte…