In der FAS vom 30.05.2021 liefert Eva Horn, Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Wien, ein Beispiel dafür, dass man ein Problem zwar grundsätzlich erkennen kann, aber in der Kommunikation der eigenen Erkenntnis nicht zur Lösung beiträgt, sondern vielleicht das Problem sogar noch vergrößert. Es geht um die Themen der Zeit und die Tatsache, dass Menschen dazu unterschiedliche Meinungen vertreten. Ziemlich zu Anfang bekommen wir diese Liste präsentiert:
"Was da an Gerüchten zirkuliert, kennen wir zur Genüge: Corona war erst eine Grippe, dann eine Erfindung von Bill Gates. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung sind eine Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten, die Impfungen ein großer Menschenversuch mit offenem Ausgang. Die Wahlen in den USA waren angeblich ein orchestrierter Wahlbetrug, hinter dem eine korrupte Weltelite steht. Diese Elite verjüngt sich, laut der Bewegung QAnon, mit Kinderblut und zieht in Politik und Medien heimlich die Strippen. Das Bemerkenswerte dabei ist: Solche Theorien sind kein Nischenphänomen mehr."
Mit der Einordnung als „solche Theorien“ (die deutlich macht, dass Frau Horn keine Naturwissenschaftlerin ist, weil sie sonst Hypothesen nicht als Theorien adeln würde) werden abschließend alle Aussagen auf dieselbe Stufe gehoben. Dabei wird nonchalant vergessen, dass erstens mittendrin das Thema gewechselt wurde (von Corona zu Weltpolitik) und zweitens eine Steigerung ausgehend von durchaus diskutablen Punkten hin zu echten Nischenphänomenen stattfand (und somit mal wieder ein Strohmann gebaut wurde). Der Vergleich von Corona mit einer Grippe wurde aber zuerst von denjenigen angestellt, die inzwischen zu den „Experten“ gehören. Und die Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung sind natürlich eine Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten, die Impfungen natürlich ein großer Menschenversuch mit offenem Ausgang!
"Aber was wir gegenwärtig beobachten, ist ein fundamentales Misstrauen gegenüber dem, was man den offiziellen Wissensstand nennen könnte: gegenüber den Verlautbarungen der Regierung, den Darstellungen der Experten, den Berichten der offiziellen Medien. Besonders laut wurde dieses Misstrauen in den medienwirksamen Einsprüchen gegen die Expertenmeinungen zu Covid-19. Eine kleine, aber laute Minderheit selbst ernannter Experten stellte von Beginn der Pandemie an das wissenschaftliche Wissen über den Erreger, seine Gefährlichkeit und die notwendigen Gegenmaßnahmen massiv infrage."
Die zentralen Figuren in diesem Spiel sind die Experten. Diese gibt es offenbar in zwei Geschmacksrichtungen: eine „ernennt sich selbst“, die andere – wird ernannt? Von wem? Etwas weiter im Text konkretisiert die Autorin durchaus interessant:
"Wogegen die Corona-Skeptiker ins Feld zogen, war das Expertentum, auf das sich die Regierung regelmäßig berief, um drastische Maßnahmen wie Lockdown, Schulschließungen, Massenimpfungen als „alternativlos“ darzustellen. Denn wo Experten herrschen, gibt es nichts mehr zu diskutieren."
Diesen Sachverhalt hat Heather Heying hörenswert beschrieben (auf Odysee; leider nicht mehr auf YouTube, da der Zensur zum Opfer gefallen): die Gesellschaft läuft in ein Problem und erkennt dies auch; es wird eine offizielle Lösung des Problems propagiert, und wer die (von Experten!) vorgeschlagene Lösung anzweifelt, dem wird vorgeworfen, er leugne die Existenz des Problems. Oder er wird von Frau Horn als „Besserwisser“ bezeichnet, der „kein wissenschaftliches, sondern politisiertes Wissen produziert; keine Fakten, sondern Meinungen“. Eine Aussage ist also „ein Fakt“ und „wissenschaftlich“, wenn sie von Politikern propagiert wird, und „eine Meinung“ und „politisiert“, wenn sie nicht von einem Politiker stammt. Eine kuriose Verdrehung, der noch die Krone aufgesetzt wird mit der Behauptung, die „Besserwisser“ hätten eine „Vorstellung von Wissenschaft als in Stein gemeißeltes Wissen, die jeden Dissens zwischen Wissenschaftlerinnen als Beweis dafür nimmt, wie unsolide deren Erkenntnisse seien“. Wer aus eigenem Antrieb und unter Dauerbeschuss in den Dissens geht, hat ein Problem mit Dissens? Was soll’s: wer einen Text gendert, indem er a posteriori an die Hälfte aller vorkommenden Gruppenbezeichnungen ein „innen“ hängt, dem kann an Logik und Verständlichkeit nicht sehr gelegen sein. Und wer glaubt, „die Weigerung, Masken zu tragen, ist die Freiheit, andere anzustecken“, der sollte vielleicht auch die Veröffentlichung halbseitiger (nein, nicht halbseidener) Artikel in einer Zeitung als die Freiheit sehen, Bäume zu töten.
Zum Schluss wird zunächst ganz wunderbar Hannah Arendt zitiert: „Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren und das ihr inhärente Versprechen, dass Menschen die Welt ändern können, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert.“ Und dann wird auch diese Erkenntnis auf den Kopf gestellt: „Wenn dieses Fundament im Geraune von Skepsis, selbst gebrauten Wahrheiten und Verschwörungsideologien verloren geht, bleibt am Ende nichts, worüber man noch streiten kann.“ Aus einer Anforderung an die Politik wird dreist (oder unbewusst, laut Hanlon’s Razor) ein Vorwurf an die Stimmen von außerhalb der Politik. Wie lässt sich das Problem grundsätzlich verstehen? Hierzu lasse ich Raymond Unger (aus „Vom Verlust der Freiheit“) zu Wort kommen:
"Trotz der Vielzahl philosophischer Weltbilder lassen sich prinzipiell zwei grundverschiedene Positionen oder Gewissheiten ausmachen, von denen aus der Mensch das Sein in der Welt verortet. Zugespitzt und grob vereinfacht, könnte man auch von einer grundsätzlich »spirituell-transzendenten« und einer grundsätzlich »materialistisch-sozialistischen« Weltsicht sprechen. Die transzendente Position geht von folgender Grundannahme aus:
1. Es gibt einen Gott – und ich bin es nicht.
Die sozialistische Sicht ist diametral anders:
2. Es gibt keinen Gott – oder falls doch, könnte es ebenso ich selbst sein.
[…] Spirituell verwurzelte Menschen passen ihr Dasein in einen höheren Sinnkontext ein. Dieser besteht im Wesentlichen daraus das Paradox menschlicher Freiheit vs. Unverfügbarkeit anzuerkennen. Bei diesem Weltmodell ist der Mensch einerseits ein freies und für sein Handeln verantwortliches Wesen – dennoch ist er zugleich in ein gegebenes Schicksal gestellt, das sich seinem Machtbereich entzieht. Kurz gesagt: Etwas ist größer. Einem Menschen mit diesem Weltbild ist bewusst, dass ihm wesentliche Dinge unverfügbar bleiben. Der Widerspruch, einerseits handeln zu müssen und andererseits dennoch die begrenzte Wirkmächtigkeit des eigenen Handels anzuerkennen, erfordert Demut und Reife. Viele Philosophen haben sich an diesem Dilemma abgearbeitet. Immerhin gilt es, bei jedem der mannigfaltigen Alltagsprobleme unterscheiden zu können, was verfügbar ist und was nicht. Das sogenannte »Gelassenheitsgebet« bringt die Schwierigkeit des menschlichen Handelns auf den Punkt:
»Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«"
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