Der Rat der Neuen Götter

Die Sitzung des Rates der Neuen Götter war endlich vorbei. Es hätte ja auch schneller gehen können, wenn Nachhaltigkeit nicht mal wieder den Tagesordnungspunkt „Sonstiges“ gekapert hätte, um über die Wegwerftrinkhörner beim Mittagessen zu nölen. Aber nun hatte sich der Saal weitgehend geleert; die meisten Teilnehmer waren nach unten in die Bar gezogen, um bei Nektar und Ambrosia zum angenehmen Teil der Veranstaltung überzugehen. Wissenschaft, der sich wie üblich um die Technik kümmern musste, stand vorne am Pult und kopierte die Foliensätze in einen allgemein zugänglichen Ordner. Wirtschaft hielt sich am Flipchart fest und versuchte, eine Linie von links oben nach rechts unten zu zeichnen, was aber immer irgendwie misslang. Demokratie saß noch auf seinem Platz und brütete über seinem Notizbuch.

„Hey, Demo, was ist los?”, rief Wirtschaft ihm zu, „Sonst klebt sich doch immer nur Klimawandel an seinem Stuhl fest!“

„Ich müsste noch was fertig machen“, brummte Demokratie, „aber nach so einem Tag ist in meinem Kopf nur noch döp-dö-dö-döp. Was wäre denn ein guter Reim auf ‚Hetze‘?“

„Also, nach meinem Geschmack am liebsten ‚Schätze‘“, gab Wirtschaft zurück, „oder vielleicht ‚Arbeitsplätze‘? Schreib doch einfach ‚Hass‘, darauf reimt sich ‚Spaß‘, und das ist dann unser Stichwort, bevor die Nachfrage in der Bar das Angebot übersteigt.“

Demokratie antwortete nicht, daher wandte sich Wirtschaft nun Wissenschaft zu: „Und Du? Kommst Du mit? Zieh aber erst Deinen Laborkittel aus.“

Wissenschaft sah nur kurz vom Laptop hoch: „Nein, danke. Das ist mir zu blöd. Und lieber Laborkittel mit Inhalt als Armani ohne.“

„Spaßbremse!“, winkte Wirtschaft ab, „Fast so schlimm wie Öffentliche Gesundheit, der nur noch remote teilnimmt, und dann auch noch mit Maske! Ihr seid ja nur neidisch, weil Euch nicht mehr so viele Jungfrauen geopfert werden wie Demokratie oder mir. Obwohl – auf Klimawandel bin ich da auch ein bisschen neidisch.“

„Ich hab’s doch schon mehrfach gesagt, ich möchte ‚Unsere Demokratie‘ genannt werden“, meldete sich Demokratie zu Wort, „da stehen meine eifrigsten Anhänger total drauf.“

„Ach so?“, staunte Wirtschaft, „Unsere Demokratie im Land, geheiligt werde Dein Name?“

„Genau“, bestätigte Demokratie, „Deine Wahl komme, Dein Wille geschehe, wie in der EU so auf kommunaler Ebene.“

„Verstanden“, grinste Wirtschaft, „unseren täglichen Skandal gib uns heute, aber vergib uns nicht unsere Kontaktschuld, wie auch wir nicht vergeben den Kontaktschuldigern.“

„Und führe uns nicht in die Opposition, sondern halte die Bösen unter 15 Prozent. Denn Dein ist die Wahl und das Grundgesetz und die demokratischen Parteien und die Medien und so“, vervollständigte Demokratie, „und jetzt wäre ich tatsächlich bereit, einen trinken zu gehen.“

Gut gelaunt verließen Wirtschaft und Demokratie den Saal. Wissenschaft blieb allein zurück und murmelte vor sich hin: „Ihr wisst gar nicht, wie sehr Ihr mir auf die Nerven geht. Macht doch Euren Scheiß alleine!“ Dann versteckte er in den Foliensätzen einen Virus. Jeder, der im Nachgang die Foliensätze öffnete, würde unbewusst dafür sorgen, dass Mitschnitte der Sitzung das Internet fluteten. Leider hatte keiner der Teilnehmer je wieder das Bedürfnis, noch einmal auf die Folien zu schauen. Sie surften auf der Hingabewelle ihrer Anhänger, und wenn doch mal die Brandung nachließ und einer der Neuen Götter im Meer der Bedeutungslosigkeit verschwand, drängte ein anderer schnell nach oben.